Diversität in Unternehmen ist Innovation - warum fördern wir Unterschiede dann nicht viel mehr?

Veröffentlicht am 16. 5. 2018 von Dr. Vanessa Giese

Unsere Kinder: Wollen wir sie an ihren Leistungen messen oder ihnen möglichst gleiche Chancen geben?

Deutschland ist Schlusslicht, wenn es um Frauen in Führungspositionen geht. Das hat die deutsch-schwedische Allbright-Stiftung erhoben. Das Ergebnis ist mehr als Genderkram und Gedöns. Es geht um Innovationskraft, Digitalisierung und darum, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein - auch für Männer. Und darum, wer wir als Gesellschaft sein wollen. 

Der aktuelle Bericht der Allbright-Stiftung [PDF] ist eindeutig: Deutschland blamiert sich auf ganzer Linie. So fasst es zumindest das Magazin t3n zusammen

Der wesentliche Inhalt des Allbright-Berichts:

  • In deutschen Unternehmensvorständen beträgt der Männeranteil 88 Prozent. In keinem anderen Land ist der Anteil an Frauen geringer als in Deutschland - untersucht wurden Frankreich, Großbritannien, Polen, Schweden und die USA. Der Frauenanteil in Deutschland ist zuletzt sogar noch gefallen. 
  • Unter welchem Aspekt man Frauenförderung auch betrachtet: Deutschland landet stets auf dem letzten Platz, egal ob wir auf Vorstände, Aufsichtsräte oder das weitere Top-Management schauen. 
  • Die Unternehmen verweisen auf ungünstige politische und gesellschaftliche Rahmen- bedingungen für Frauen. Die Allbright-Stiftung sagt: Die Rahmenbedingungen seien andernorts auch nicht besser, teilweise sogar deutlich schlechter. Der Wille der Unternehmen zähle. 

Die Süddeutsche Zeitung verweist passend dazu auf eine OECD-Studie: Wenn Frauen arbeiten, wächst die Wirtschaft. Der Titel ist nicht ganz passend, denn tatsächlich geht es darum, dass eine Familienpolitik, die auf Vereinbarkeit für beide Geschlechter setzt, gut fürs Wirtschaftswachstum ist. Originalmitteilung der OECD: Family-friendly policies a key driver of economic growth

Damit sind wir beim Kern: Bei Frauenförderung geht es nicht nur um Frauen. Es geht um Innovationskraft und um den Willen, sich gemeinsam zu bestärken und zu verbessern, es geht um die Integration von Lohnarbeit und Lebenswelten, um wirtschaftlichen Erfolg und um Veränderungskompetenz. Also um alles, von dem auch Männer profitieren. 

Warum sollten wir Frauen fördern wollen?

Nicht nur die OECD-Studie legt nahe, dass eine Förderung gerechter und familienfreundlicher Strukturen gut für die Wirtschaftskraft ist. Untersuchungen zeigen: Heterogene Teams, also Teams, die aus Mitgliedern bestehen, die sich in Geschlecht, Alter und Herkunft unterscheiden, haben zwar einen schwierigeren Start, weil sie erst einmal Gegensätze vereinen müssen. Gelingt ihnen das, ist ihre Performance allerdings signifikant höher als die homogener Teams. Der Grund: Je ähnlicher sich Mitglieder sind, desto eher neigen sie zur Anpassung und zum Ja-Sagen. Ja-Sager bringen allerdings kein Unternehmen voran. Es sind die Gegensätze und die Reibung, aus denen Energie und Wachstum entstehen. Mehr dazu unter anderem in der Studie: Diversität und Erfolg von Organisationen [PDF]

Wer Frauen fördert, nimmt außerdem Männern Druck - den Druck, den männliche Zuschreibungen und sozialer Status mit sich bringen. Den Druck, immer bestehen und sich stets erfolgreich beweisen zu müssen. Den Druck, seine Individualität und seine Wünsche hinter den Erfolg des Unternehmens und den Erwartungen Dritter zurückzustellen.

Der dritte Grund: Bei vielen Themen der Frauenförderung geht es nicht nur um Frauen, sondern darum, als Arbeitgeber insgesamt attraktiv zu sein. Die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben - nicht nur Familienleben, auch Menschen ohne Kinder haben ein Leben neben dem Job - ist ein wesentliches Merkmal nachgefragter Arbeitgeber. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenssituationen und -perspektiven, eine geordnete und institutionalisierte Entwicklung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, transparente Perspektiven im Unternehmen, ein Miteinander auf Augenhöhe, eine konstruktive Diskussionskultur jenseits von Machtgehabe - all das wirkt sich positiv auf die gesamte Belegschaft aus, nicht nur auf Frauen. 

Wenn wir also von Frauenförderung reden, reden wir davon, Perspektiven und Unterschiedlichkeit in Unternehmen zu fördern. 

Warum tun wir uns so schwer mit Frauen in Führungspositionen?

Deutschland ist das Land des Bildungsideals, der Aufklärung und des Wirtschaftswunders. Deutschland hat Jahrhunderte herausragenden sozialen und technischen Fortschritts hinter sich. Warum tut sich gerade dieses Land so schwer mit sozialer Veränderung? Was ist so besonders an Deutschland, dass wir so deutlich hinterherhinken? Ich möchte dazu Thesen aufstellen.

Das kollektive Gedächtnis ist uns im Weg

Jeder von uns hat seine persönlichen Erinnerungen: das Gedächtnis. Auch Nationen haben ihre gemeinsamen Erinnerungen: Gesellschaften bilden auf Basis ihrer Geschichte und ihrer kollektiven Erfahrungen ein gemeinsames Gedächtnis. Die Idee des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Philosophen Maurice Halbwachs zurück. 

Unser persönliches Bild der Vergangenheit, das, was jeder von uns erlebt hat und die Deutung und Speicherung dieses Erlebens, bildet sich nach Halbwachs innerhalb gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, der cadres sociaux. Sie sind eine gemeinsame Art der Vergangenheitsdeutung und bestimmen das soziale Gefüge einer Gesellschaft. Das Kollektivgedächtnis ist der Denkrahmen für unser individuelles Gedächtnis.

Unser persönliches Gedächtnis ist darauf ausgelegt, Anschluss an andere Menschen und ihre Erfahrungen zu finden. Es gleicht sich ständig mit unserer Wahrnehmung ab, deutet die Vergangenheit und gleicht Erinnerungen an. Deshalb sind zum Beispiel Zeugenaussagen immer nur begrenzt belastbar. Das kollektive Gedächtnis hingegen grenzt sich ab: Die historischen Bezugspunkte anderer Nationen, die Mythen anderer Staaten sind für das gesellschaftliche Gedächtnis nicht von Belang. Deshalb ist das kollektive Gedächtnis von Nationen im Gegensatz zum persönlichen Gedächtnis des Einzelnen sehr stabil. 

Wenn wir nun auf das deutsche Gedächtnis blicken, was sehen wir da? Der Journalist Matthias Lohre hat sich ebenso wie seine Autorenkollegin Sabine Bode intensiv mit der Generation der Kriegsenkel auseinandergesetzt. Die Kriegsenkel sind die Generation der heute 40- bis 60-Jährigen - also derjenigen Menschen, die unsere Wirtschaft heute maßgeblich prägen.

Die heutige Generation der 40- bis 60-Jährigen, so Lohre und Bode, hat die Kinder der Kriegskinder als Eltern. Sie haben den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach noch sehr nah miterlebt. Sie lebten in festen Routinen, arbeiteten hart, bauten Unternehmen und Verwaltungen auf.  Die Entbehrungen der Kriegsgeneration und der eigenen Nachkriegskindheit waren noch präsent - und damit die Angst, dass alles Erarbeitete schnell wieder verloren geht.

Die Eltern der heute 40- bis 60-Jährigen belasteten ihre Kinder mit der eigenen Mühsal. Lohre nennt Sätze wie:

  • "Ihr sollt es mal besser haben als wir"
  • "Ihr habt es viel besser als wir damals" und
  • "Sei nicht so undankbar".

Liebesentzug und Nichtbeachtung waren ein probates Mittel in der Kindererziehung. Über schlechte Erfahrungen und über Gefühle sprach man nicht, besonders nicht mit dem Vater. Aber auch die Mutter war oft unerbittlich. Das vorherrschende Gefühl der Kinder war deshalb, nicht genug zu sein. Etwas wert war nur, wer sich fügt und etwas leistet (empfehlenswert dazu auch ein Interview beim Radiosender HR2).

Wer ständig vorgehalten bekommt, gefälligst dankbar zu sein für das, was er hat, auch wenn er anders empfindet, dem wird suggeriert: Mit deiner Wahrnehmung stimmt etwas nicht. Die Folge: Der Mensch lernt nicht, sich selbst zu vertrauen - und vertraut auch niemand anderem. Er spriccht nicht über Schwächen und Scheitern und kann nicht daran wachsen. 

Was hat das nun mit Frauenförderung zu tun?

Frauenförderung ist das Fördern von Unterschieden. Unterschiedlichkeit verträgt sich aber schlecht mit Unsicherheit und dem Anspruch, genügsam und dankbar zu sein. Wer unsicher ist, dem fällt es schwer, Widersprüche auszuhalten. Denn jeder Widerspruch füttert die Unsicherheit. Ich habe dazu schon einmal etwas geschrieben. Hinzu kommt: Wer dankbar sein soll, fordert nichts ein, schon gar nichts, das die Errungenschaften einer Generation infrage stellt. 

Gleich und Gleich gesellt sich gern

Unsicherheit und das Gefühl, nicht genug zu sein, hemmen also Diversität. Sie stützen das Gleiche. Das Gleiche ist das, was mehrheitlich da ist, im Fall der Führungsetagen: das Männliche.

(Ich möchte an dieser Stelle die These aufstellen, dass diese Mechanik bei weiblicher Dominanz, etwa in sozialen Berufen, genauso vonstatten geht. Aber bleiben wir beim eigentlichen Thema, sonst wird es unübersichtlich.)

Die These "Gleich und Gleich gesellt sich gern" zeigt sich nicht nur vor dem Hintergrund kollektiver Erfahrungen, sondern auch in Einzelstudien aus der angloamerikanischen Forschung - zum Beispiel zu Einstellungsgesprächen: Männliche Bewerber werden als kompetenter eingeschätzt als weibliche. Dazu exemplarisch zwei Studien: 

  • So hat eine Forschergruppe von der Yale University in einer randomisierten, doppelblind durchgeführten Studie Bewerbungsunterlagen für eine Labormanagementstelle verschickt, in denen die Bewerberinnen und Bewerber jeweils über gleiche Kompetenzen verfügten. Nur der Name - männlich oder weiblich - unterschied sich. Die einstellenden Professoren schätzten die Frauen trotz gleicher Qualifikation als weniger geeignet ein, boten ihnen weniger Karriereförderung und ein geringeres Einstiegsgehalt an (Quelle, Besprechung auf faz.net: Die subtile Inkompetenz der Frauen).  
  • Dass Männer unbewusst eher Männern fördern, zeigt sich außerdem im Miteinander und der Zustimmung, die der Einzelne bekommt: So stellten Forscher, die Venture Capital Conversations auf die Bewertung männlicher und weiblicher Beiträge hin analysierten, fest, dass die weiblichen Beiträge bei gleicher inhaltlicher Qualität weniger Zustimmung von den Kapitalgebern erfuhren (Quelle: OECD Observer). 

Der Gender Bias, also die geschlechtsbezogene Verzerrung der Wahrnehmung, kommt also nicht nur in Deutschland zum Tragen. Als These möchte ich jedoch zur Diskussion stellen, dass die deutsche Kollektiverfahrung diese Verzerrung verstärkt, weshalb wir schlechter dastehen als andere Nationen. 

Unsere Idee von Gerechtigkeit ist nicht hilfreich

Noch einmal zurück zu unserer Geschichte, speziell zum Wirtschaftswunder und zu den  preußisch-calvinistischen Tugenden, auf die wir uns auch gerne berufen. Beides befördert eine bestimmte Form des Gerechtigkeitsempfindens, die mit Geschlechtergerechtigkeit und einer Gerechtigkeit, die Unterschiede ausgleicht, nur bedingt vereinbar ist. 

Denn Gerechtigkeit kann sich auf unterschiedliche Weise ausdrücken:

  • Zum Einen gibt es die Idee der Leistungsgerechtigkeit. Sie besagt, dass jeder so viel erhält, wie er eingebracht hat. Wer mehr leistet und mehr beiträgt, bekommt auch mehr. Die Leistungsgerechtigkeit orientiert sich am Ergebnis des Handelns. 
  • Anders die Idee der Chancengerechtigkeit. Sie steht am Beginn und beurteilt nicht das Ergebnis, sondern die Ausgangssituation. Sie besagt: Jeder soll die gleichen Möglichkeiten erhalten, Leistung zu erbringen.  
  • Die dritte Form der Gerechtigkeit ist die Bedarfsgerechtigkeit. Sie möchte, dass jeder das erhält, was er braucht, um seinen Bedarf zu decken. Etwa, weil die Chancen, die die Gesellschaft für ihn bereit hält, nicht ausreichen, oder weil er aufgrund körperlicher, geistiger oder sozialer Voraussetzungen nicht in der Lage ist, ausreichend Leistung zu erbringen. 
  • Zu guter Letzt existiert die Idee der Gleichheitsgerechtigkeit, die einfach festlegt: fifty-fifty, jeder kriegt die Hälfte, unabhängig von Leistung, Chancen und Bedarf. 

Sowohl unsere preußisch-militärische Vergangenheit als auch der wirtschaftliche Erfolg - und auch die Entbehrungen - der Nachkriegsjahre befruchten vor allem die Idee der Leistungsgerechtigkeit. Wirtschaftliche Produktivität ist das vorherrschende Ideal. Für den Einzelnen bedeutet das: Wer mehr reingibt, bekommt auch mehr raus. Der Markt regelt das. 

Geschlechtergerechtigkeit ist aber keine Frage von Leistung. Biologische Merkmale sind per se keine Frage von Leistung - genauso wie Religionszugehörigkeit, Migrationshintergrund oder sexuelle Orientierung. Bei Diversität geht es um eine Gleichheit der Chancen. Erst wenn eine Gesellschaft die Gerechtigkeit der Chancen höher bewertet als die Gerechtigkeit der Leistung, räumt sie auch der Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder eine höhere Priorität ein. Wir sollten uns also fragen, welche Haltung wir haben und wer wir sein wollen: Wollen wir diejenigen belohnen, die von den vorhandenen Chancen und ihren persönlichen Ressourcen profitieren und dadurch mehr Leistung erbringen? Oder wollen wir die Chancen ausweiten und eine Gesellschaft werden, die ihrer Entwicklung mehr Wert beimisst als ihrer Leistung? 

Das Fördern von Unterschieden ist Innovation

"Frauenpolitik und so Gedöns", wie Altkanzler Gerhard Schröder anlässlich der Vereidigung des Bundeskabinetts im Oktober 1998 sagte, ist also weder Wohwollen noch Luxus. Das Fördern von Unterschiedlichkeit ist ein Beitrag zu unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsfähigkeit, ein Beitrag zu mehr Innovationskraft und zu einem Mehr für alle. Diversität ist die Erneuerung überkommener Ideale und die Abkehr von einer Kultur des Drucks, der Unsicherheit und des Nichtgenügens. Eine Entwicklung, von der alle profitieren. 

Das Hörstück zum Thema

Gleichberechtigung
In unserem Podcast Ein Mann. Eine Frau. Ein Gespräch.unterhalte ich mich mit Christian de Vries über das Thema Gleichberechtigung. Wir reden über gläserne Decken, über Diversität in Unternehmen, über die Frauenquote und über unsere eigenen Erfahrungen - als Mann zwischen Frauen und als Frau in Bewerbungsgesprächen und beim Autokauf. Die Folge gibt es bei iTunes, Soundcloud und Podigee, als mp3 zum Downloadund als RSS-Feed (gesamter Podcast als mp3aac). Mehr Infos zum Hörangebot. 

Kommentare

  • Doro2.Jun.2018

    Ich arbeite im sozialen Bereich. Das komische ist da nur, dass die par Männer, die es noch gibt, fast alle Führunspositionen haben. Die haben dieses Ziel auch fast alle von Anfang an.
    Mir als Frau wurde mehr als einmal trotz Fachkräftemangel die 80 Prozentstelle befristet angeboten. Am.liebsten noch so eingruppiert als wäre ich Berufsanfängerin und nicht über 20 Jahre im Job und Praxisanleiterinn In einem Fall sogar mit der Begründung, dass mein Mann mich ja versorgen würde. Das war noch vor der Schwangerschaft. Mit Kind wird dann die schlechte Eingruppierung mit mangelnder Flexibilität verkauft. Dass das im Gehalt eigentlich mit Zulagen ausgeglichen wird, ist in den Augen der männlichen Chefs egal.


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