Rückblick auf den Juli-Newsletter: Der ideale Arbeitsplatz ist ein Manchmal-Großraum

Veröffentlicht am 28. 8. 2018 von Dr. Vanessa Giese

Im Juli-Newsletter ging es um Großraumbüros - und um eine Studie, die sich mit der Kommunikation und Zusammenarbeit dort beschäftigt. Auf den ersten Blick fällt sie eindeutig gegen den Großraum aus. Ich habe genauer hingesehen. 

Anfang des Monats ging eine Studie zu Großraumbüros durch die Medien. Spiegel Online titelte: "Großraumbüros lassen Mitarbeiter verstummen". Der Business Insider formulierte: "Studie zeigt, warum Großraumbüros ihren eigentlichen Zweck verfehlen". Das Fazit: In Großraumbüros werde nicht mehr, sondern weniger als in herkömmlichen Büros kommuniziert. Damit sei die eigentliche Intention des offenen Arbeitens, nämlich Mauern einzureißen und Zusammenarbeit zu fördern, verfehlt.

Ich habe mir die Harvard-Studie [pdf] einmal genauer angesehen. 

Der erste Blick aufs Ergebnis: 70 Prozent weniger Kommunikation

Die beiden Forscher, sie heißen Ethan S. Bernstein und Stephen Turban, haben für ihre Untersuchung eine Firma begleitet, die von Einzelbüros in eine Großraumarchitektur umgezogen ist. Sie haben die Frequenz, in der die Mitarbeiter miteinander kommunizieren, gemessen - einmal vor dem Umzug und einmal nach dem Umzug. 

Das Ergebnis: Die Face-to-Face-Kommunikation, also das Miteinanderreden von Angesicht zu Angesicht, hat nach dem Umzug ins Großraumbüro um 70 Prozent abgenommen. Das klingt zunächst nach dem, was Spiegel Onlineschreibt: Großraumbüros sind Mist. Aber ist das so? 

Der zweite Blick: Der genaue Versuchsaufbau

Beim Versuchsaufbau handelte es sich um eine Feldstudie mit 52 Versuchspersonen der Firma. Die Versuchspersonen saßen zunächst in Einzel- und Gruppenbüros. Bernstein und Turban baten die Leute, einen Sensor zu tragen, ein sogenanntes soziometrisches Badge. Der Sensor bemerkte per Infrarot, wenn sein Träger sich einem anderen Sensorträger näherte. Mikrofone registrierten, dass die beiden Menschen miteinander redeten - aus Datenschutzgründen nahmen sie allerdings nicht auf, was geredet wurde. Zudem registrierte der Sensor Körperbewegungen und die Position der Menschen im Raum. Alle Daten erhielten Zeitstempel.

Eine Face-to-Face-Interaktion wurde dann als solche registriert, wenn gleichzeitig

  1. zwei oder mehrere Sensoren einander begegneten,
  2. das Mikrofon abwechselndes Sprechen registrierte und
  3. das Ganze innerhalb eines Radius von zehn Metern stattfand.

Die Daten wurden drei Wochen lang vor dem Umzug in die Großraumarchitektur erhoben.

Die gleiche Erhebung fand drei Monate nach dem Umzug statt, nachdem alle Mitarbeiter in eine Open-Space-Architektur umgezogen und sich an die neue Arbeitssituation gewöhnt und neue Routinen entwickelt hatten.

Das Ergebnis im Einzelnen

Die Sensoren registrierten vor dem Umzug 5266 Minuten persönliche und direkte Interaktion. Das sind mehr als 5,8 Stunden pro Mitarbeiter pro Tag. Nach dem Umzug waren es noch 1,7 Stunden pro Mitarbeiter und Tag (1492 Minuten gesamt).

Nach dem Umzug in den Großraum schickten die Mitarbeiter 56 Prozent mehr E-Mails. Die Instant-Messaging-Aktivität nahm um 67 Prozent zu.

Das heißt: Nachdem die Wände weg waren, redeten die Leute weniger von Angesicht zu Angesicht. Stattdessen schrieben sie mehr Mails oder schickten sich Chat-Nachrichten.

Der dritte Blick: Warum nimmt die gemessene Kommunikation ab?

Bernstein und Turban geben in ihrer Studie auch eine Interpretation der Ergebnisse. Sie argumentieren mit der Privatssphäre: Wird den Menschen Privatssphäre genommen, holen sie sich die Privatheit über den Kommunikationskanal zurück. Indem sie Mails und Chat bevorzugen, isolieren sie sich von anderen.

Ich habe dazu weitere Überlegungen angestellt:

  • Quantität ist nicht gleich Qualität: Die Mitarbeiter kommunizierten vor dem Umzug 5,8 Stunden face to face miteinander. Kommt nur mir das sehr viel vor? War ein Teil der Kommunikation vor dem Umzug vielleicht überflüssig? Wenn ich in Einzelbüros arbeite, muss ich jedesmal, wenn ich einen Kollegen persönlich sprechen möchte, dort vorbeigehen. Auf dem Weg treffe ich andere Kollegen, halte Small Talk, merke dann, dass der gewünschte Kollege nicht am Platz ist und gehe wieder zurück. Meine These: Die 5,8 Kommunikationsstunden vor dem Umzug waren nicht nur effiziente Kommunikation.
  • Mehr Rücksichtnahme: Wenn ich durch eine offene Architektur sehe, dass meine Kollegin am Platz sitzt, ist es für mich einfacher und ressourcensparender, ihr eine Chat-Nachricht zu schreiben, als zu ihr hinüber zu laufen. Gerade, wenn ich nur eine kurze Rücksprache halten möchte. Also schreibe ich ihr eine Nachricht anstatt sie aufzusuchen. Ihr Vorteil: Sie kann erst ihren Arbeitsschritt zu Ende führen und dann die Nachricht beantworten. Stehe ich stattdessen abwartend an ihrem Schreibtisch, ist das für sie schwieriger.
  • Respekt vor der Ruhe: Außerdem störe ich durch eine Textnachricht niemanden der übrigen Kollegen im Großraum: weder durch meinen Gang von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz noch, indem ich am Platz meiner Kollegin ein lautes Gespräch führe.

Weitere Überlegungen, warum die Versuchspersonen im Großraum weniger von Angesicht zu Angesicht gesprochen haben: 

  • Soziale Erwünschtheit: Im Großraum sind Menschen ständig unter Beobachtung durch Kolleginnen und Kollegen. Das setzt sie dem Druck aus, produktiv zu sein - oder zumindest so auszusehen. Während sie sich im Einzel- oder Zweierbüro zwischendurch Auszeiten nehmen, aus dem Fenster gucken, in die Luft starren oder mal im Web surfen, möchten sie als Arbeitnehmer im Großraumbüro beschäftigt wirken. Tippende, Nachrichten schreibende Menschen sehen sehr beschäftigt aus.
  • Gesprächsbereitschaft: Wenn ich meine Kolleginnen und Kollegen im Großraum sehe, sehe ich auch, wenn sie gerade nicht gesprächsbereit sind: weil sie telefonieren, sich mit Dritten unterhalten oder weil sie konzentriert arbeiten. Dann sehe ich davon ab, sie zu stören - und schreibe lieber eine Mail, die sie später lesen können. Unnütze Wege und Gesprächsunterbrechungen fallen weg.

Bernstein und Turban haben nicht den Inhalt der Kommunikation erhoben - weder face to face noch in der schriftlichen Kommunikation. Absprachen wie "Kommst du mit in die Kantine?" oder andere "Hast du XYZ schon erledigt?" lassen sich per Messenger effizienter lösen als im direkten Gespräch. Zum Teil genügen dazu Gesten oder Blickkontakt.

Das Fazit: Intermettierende Zusammenarbeit

Die Forscher nehmen in ihrem Papier Bezug auf weitere Studien, die sich mit kollektiver Intelligenz und mit Zusammenarbeit beschäftigen. Die Erkenntnisse dort: Kleine Gruppen befördern kollektive Intelligenz (Kao & Couzin 2014). Und: Intermettierender sozialer Austausch ist am produktivsten, um Probleme zu lösen (Tokyawa et al. 2014). Das heißt: Die Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen sollte sich mit konzentrierter Arbeit abwechseln.

Für die Arbeitsplatzarchitektur heißt das:

  • Mittlere Teamgröße: Menschen sollten durchaus in Gruppen zusammensitzen - aber nicht in zu großen Gruppen.
  • Räume fürs Alleine- und Zusammenarbeiten: Menschen brauchen Räume, in denen sie sich regelmäßig in einem größeren Kreis austauschen können. Damit sind physische, also architektonische Räume gemeint, aber auch soziale Räume - zum Beispiel Open Space, Barcamps, Konferenzen, informelle Gelegenheiten. Sie brauchen aber auch Räume, in die sie sich zum konzentrierten Arbeiten zurückziehen können.
  • Gelegenheiten schaffen: Der intermettierende Großraum besteht aus viel Fläche - und aus unterschiedlichen Gelegenheiten. Damit die Menschen auswählen können, ob sie alleine oder in Kleingruppen effizienter sind oder ob sie gerade die Gemeinschaft benötigen, um eine Lösung zu finden.

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