Was ich in meiner Auszeit lernte

Veröffentlicht am 16. 4. 2020 von Dr. Vanessa Giese

Im Januar 2020 habe ich mit eine Auszeit genommen. Ich war auf La Gomera, bin viel gewandert und habe an einem Buch geschrieben. Die Zeit in der Einsamkeit hat etwas mit mir gemacht. 

Als ich Anfang Januar ins Flugzeug stieg, war ich ausgebrannt. Ich habe es daran gemerkt, dass ich nicht mehr kreativ sein konnte, keine Ideen hatte. Ich tat mich immer schwerer zu erkennen, worum es in den Schilderungen meiner Kunden ging. Das Offensichtliche, das ein wacher Geist leicht erkennt, verschwand im Nebel der Überlast. 

Meine Belastung spürte ich noch mehr, als ich am Urlaubsort ankam: Mietwagen übernehmen, Unterkunft finden, Supermarkt suchen - kleine Handlungen forderten mich unverhältmäßig, vor allem emotional.

Kreatives Denken braucht einen Zustand entspannter Wachheit

Aus der Hirnforschung weiß man: Das Stadtleben regt kreative Ideen an. Wir bekommen Eindrücke und Anregungen, vor allem, weil die Reize so unterschiedlich und widersprüchlich sind. Doch je schneller, lauter und voller die Umgebung, desto mehr muss unser Gehirn aufnehmen, filtern, analysieren und entscheiden. Das überfordert auf Dauer seine Kapazität: Wir haben dann keine Rechenleistung mehr frei, um die Anregungen, die wir bekommen, zu verarbeiten und Schlüsse daraus abzuleiten.

Nur in einer reizarmen Umgebung produziert unser Gehirn außerdem Alphawellen. Das ist die elektrische Hirnaktivität auf einer Frequenz zwischen acht und 13 Hertz - der Zustand entspannter Wachheit, in dem uns Lösungen einfallen, während wir nicht aktiv über das Problem nachgrübeln. 

Der Trubel gibt Impulse, die Einsamkeit arbeitet sie aus

In den ersten beiden Wochen meines Urlaub konnte ich keinen klaren Gedanken fassen - jedenfalls keinen, der über der Erledigen der Tagesaufgaben hinaus ging. Ich wanderte durch die Berge, lag in der Hängematte und las Texte, die ich direkt wieder vergaß. Ich hörte Podcasts, von denen ich heute keinen erinnere. Ich starrte ins Tal und ließ die Zeit verstreichen. Ich fühlte mich wie ein Feuer, das noch glimmte - aber mehr war nicht drin. Von Alphawellen keine Spur. 

Erst in der dritten Woche begann mein Geist wieder, Gedanken zu entwickeln. Ich merkte es daran, dass ich plötzlich den Drang hatte, mir ein Notizbuch zu nehmen, Dinge niederzuschreiben, die Arbeit an meinem Buchprojekt fortzusetzen.

Mein Buchprojekt: Die Frau, die vom Himmel fiel

Käthe Paulus war die erste deutsche Berufsluftschifferin. Sie stieg in Gasballons auf, sprang mit dem Fallschirm ab und entwickelte den heute gängigen Paketfallschirm. Zu ihren Veranstaltungen kamen bis zu 20.000 Menschen. Sie trat in ganz Europa auf. 

Ich schreibe ihre Geschichte auf - in einer Romanbiographie. Das Buch stützt sich auf ihre Aufzeichnungen, Informationen aus ihrem Nachlass und Schriften über sie. Das Buch wird bei Suhrkamp Insel erscheinen. 

Je mehr ich die Ruhe für mich annahm, desto mehr sah ich Handlungsstränge, konnte mich in die Figuren, die ich schuf, einfühlen und hatte den Drang zu produzieren. Mein Hirn arbeitete, während ich  ins Tal blickte; gehend, sitzend, fahrend schrieb ich nun Gedanken fort, anstatt einfach nur zu gehen, zu sitzen und zu fahren.

Was ich in meinen Alltag mitnehme

Meine Kunden bezahlen mich dafür, dass ich wach bin, aufmerksam beobachte, Schlüsse ziehe und Impulse gebe. Raum zum Denken zu haben, ist die Voraussetzung dafür, dass ich meinen Job gut mache. 

Ich habe mir nach dem Urlaub mehr Zeitinseln in den Alltag eingebaut, Tage am Stück, an denen ich keine Termine habe. Ich versuche, mir Zeit zum Verarbeiten zu lassen: Wenn Termine von 9 bis 14 Uhr gehen, verplane ich den Tag nicht weiter. Für den Sommer plane ich wieder eine kleine Auszeit ein - für die Alphawellen. 

Der Text erschien zuerst als Newsletter. 


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