Warum Menschen Leerlauf brauchen

Veröffentlicht am 20. 8. 2018 von Dr. Vanessa Giese

Foto: pexels.de, Juan Pablo Areans

Ein durchgetakteter Alltag, Effizienz und Kennzahlen - das beherrscht den Arbeitsalltag der meisten Arbeitnehmer und Chefs. Ein Plädoyer für mehr Muße in Organisationen - weil wir sie brauchen, um erfolgreich zu sein. 

Haben Sie die Überschrift gelesen und schlagen Sie schon die Hände über dem Kopf zusammen? Leerlauf! So eine spinnerte Idee! Der Laden muss laufen! Die Leute werden nicht fürs Rumsitzen und Aus-dem-Fenster-Gucken bezahlt! Doch die Gleichung "Je härter wir arbeiten, desto größer ist der Outcome" geht nicht auf.

Ein Großteil der Menschen in Deutschland arbeiten im Dienstleistungssektor. Viele sind Wissensarbeiter - das sind ein Großteil der Menschen in IT, in kaufmännischen Abteilungen, in der Entwicklung und in kreativen Berufen. Sie beschäftigen sich während ihrer Arbeitszeit vor allem mit Improvisation. Richtig gehört: Sie improvisieren. Allerdings nicht im Sinne von "Sie wurschteln sich so durch", sondern: Sie sind mit Problemen konfrontiert, managen Ausnahmen und finden Lösungen, für die es keine Schablonen gibt. Routine ist die Ausnahme, und wenn wir in die Zukunft schauen, werden Routineaufgaben mehr denn je automatisiert. 

Wissensarbeit ist Improvisation und Problemlösung

Verdichtet sich die Arbeit, sinkt bei Wissensarbeitern das Produktivitätslevel. Denn im Gegensatz zu Routinetätigkeiten lässt sich die Problemlösefähigkeit nicht durchtakten und endlos optimieren. Im Gegenteil: Je mehr wir auf den Schreibtisch bekommen, desto geringer wird unsere Aufmerksamkeitsspanne für die einzelne Herausforderung und desto oberflächlicher und unkreativer versuchen wir, sie vom Tisch zu kriegen. 

Der amerikanische Berater Alex-Soojung-Kim Pang hat sich in seinem Buch "Rest: Why You Get More Done When You Work Less" näher damit beschäftigt. In einem Interview mit dem Guardian sagt er:

We think of rest as a negative space defined by absence of work but it’s really much more than that. The counterintuitive discovery is that many of the most restorative kinds of rest are actually active.

Während wir Erholung in erster Linie als die Abwesenheit von Arbeit sehen, ist die meiste Erholungszeit tatsächlich eine aktive: durch Sport, Nachdenken, musizieren oder lesen.

Die meisten Menschen, die Großes vollbringen, werden auf der Arbeit inspiriert. 

People who have long creative lives, who do really great work for decades, they don’t get inspired and start work. They start work and get inspired. And they do this every day.

Das geht aber nur, wenn die Arbeit Raum für Inspiration lässt. 

Drei gute Gründe, die Taktzahl auch mal zu reduzieren

Langeweile ist eine Triebfeder für Entwicklung. 

Alle Entwicklungspsychologen sind sich einig: Kinder brauchen Langeweile, um sich zu entwickeln. Das Gleiche gilt für Erwachsene: Wenn externe Anforderungen jede Minute unserer Zeit durchtakten, hat unser Gehirn keinen Raum, Informationen zu sortieren, Fragestellungen zu bearbeiten und sie mit unseren Erfahrungen zu verknüpfen. 

Ein weiterer guter Grund für ein bisschen mehr Leerlauf: Das Vorhandensein von Muße fördert eine Unternehmenskultur, die auch Introvertierten die Chance gibt, sich maximal einzubringen. Der Grund:Extrovertierte Menschen preschen häufig voran, denn sie langweilen sich schneller. Das wird oft als Tatkraft und Hands-on-Mentalität gelobt. Sie prägen dadurch wesentlicher als Introvertierte die Kultur eines Unternehmens. Introvertierten sind aber keine schlechteren Arbeitnehmer; sie brauchen lediglich Ruhepausen, um Themen zu betrachten, zu sortieren, mit ihren Erfahrungen anzureichern und Ideen zu generieren. Wer ihnen den Raum gibt, dies zu tun, hebt Schätze im Unternehmen. 

Langeweile fördert die Konzentration

Ein großes Thema in Unternehmen ist Reizüberflutung: ständige Unterbrechungen, Unmengen von E-Mails und Anrufen, keine Rückzugsmöglichkeit im Großraumbüro. Damit wir allerdings Probleme lösen und Ideen entwickeln, brauchen unsere Gedanken einen Fluss. Forscher haben herausgefunden, dass Menschen sich beispielsweise bewusst von ihrer Umwelt entkoppeln, indem sie sinnfrei auf einem Block kritzeln. Während wir mit den Händen etwas Monotones tun, können unsere Gedanken fließen. Auch dazu braucht es Raum.

Wer sich einen ruhigeren Takt gönnt, ist weniger krank

Menschen, die sich Muße gönnen, fühlen sich wohler mit sich selbst und sind weniger krank. Sie haben die Gelegenheit, Erfahrungen zu reflektieren, persönlich zu reifen und auch mal negative Gefühle auszuhalten. Das führt zu größerer Stressresistenz, höherer Belastbarkeit und einer größeren Frustrationstoleranz. Vor allem der Wechsel zwischen Auf- und Anregung und ruhigen Phasen ist hilfreich. 

Wie Sie die positiven Effekte der Langeweile fürs Unternehmen nutzen

Wichtig ist, dass Organisationen situative Langeweile zulassen - aber keine existenzielle. Situative Langeweile ist Leere für den Moment, existenzielle Langeweile ist allgemeine Ziel- und Sinnlosigkeit. Geben Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Teams und Abteilungen also Ziele. Schaffen Sie gleichzeitig Möglichkeiten, Momente der Ruhe zu empfinden und Gedanken schweifen zu lassen. 

  • Bieten Sie räumliche Inseln an. Das können - ganz en vogue -Sitzsäcke oder Kickertische sein. Ihr Unternehmen muss aber nicht gleich zu einem bunten StartUp werden. Eine intelligent gestaltete Kantine, in der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen länger verweilen und aus dem Fenster sehen dürfen, ist auch eine Option. Flipcharts und Tafeln in den Büros helfen, Gedanken zu sortieren. 
  • Bieten Sie Monotones an. Steine nach Farbe sortieren. Einen Ball auf einen Korb werfen. Legosteine ineinander stecken. Bälle jonglieren. Monotone Tätigkeiten helfen uns, uns gedanklich von der Umwelt und aus dem Alltag zu lösen und den Gedanken Raum zu geben. 
  • Bieten Sie Formate für gemeinsame Gedankenspinnereien an. Manche Unternehmen machen den Freitagnachmittag zum "Open Space", andere bieten ein wöchentliches Frühstück oder agile Formate wie Lean Coffee an, wieder andere laden zu regelmäßigen Workshops fernab des Alltags ein. 
  • Ermuntern Sie zu Inseln im Terminkalender. Sich einfach mal einen Nachmittag blocken - für sich selbst. Das tut Führungskräften gut - und auch Teammitgliedern. Gehen Sie mit guten Beispiel voran, blocken Sie sich Zeit für sich und nutzen Sie sie zum Ordnen von Gedanken. Ermuntern Sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sich ebenfalls diese Freiräume zu schaffen. Lassen Sie sich danach gegenseitig an Ihren Erkenntnissen teilhaben.

Leerlauf und Langeweile sind Haltung. Lassen Sie zu, dass Menschen Möglichkeiten benötigen, um sich zurückzuziehen, aus dem Fenster zu schauen, sich mal mit einem Notizblock aufs Sofa zu setzen. Wer ständig Produktivität anmahnt, bekommt Abarbeiter, keine Denker.

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